Dienstag, 25. August 2015

Der Dursthunger.

Eine Woche ist es jetzt schon her, dass Johann eingeschlafen ist. Unvorstellbar, dass danach wirklich Zeit vergangen ist. Ich frag mich wie das sein kann, wo doch jemand Essentielles in der Welt fehlt?

Wir lenken uns irgendwie ab. Mit der Planung der Beerdigung zum Beispiel. Das klappt ganz gut, ich  bin im Bastelfieber: Malen, Schneiden, Schreiben, Kleben,... Und zwischendrin mal eine neue Kerze anzünden, weil die alte schon wieder runtergebrannt ist.

Ich hab oft Hunger oder Durst, dann ess ich was und trink was. Aber irgendwie hilft das nicht. Dann merk ich, es ist Johann der fehlt. Ein Dursthunger, der sich niemals stillen lässt. Manchmal schau ich die Fotos an und denke, er lächelt. Oder sieht er doch eher traurig aus? Ist er vielleicht doch enttäuscht, dass wir ihn so schnell aufgegeben haben? Aber nein, es war die richtige Entscheidung, dieses "Leben" hätte er nicht gewollt, ganz bestimmt nicht. 

Es gibt solche Tage und solche, das hab ich schnell gemerkt. An manchen Tagen halte ich nicht mal die Frage aus, ob ich beim Vorbereiten des Essens mithelfen kann und eine Möhre schäle. Das ist zu viel, das kann ich nicht. Ich kann doch jetzt nicht einfach eine Möhre schälen, ich hab gerade mein Kind verloren! 
An anderen Tagen halte ich es sogar aus, mit dem Bestatter über die Beerdigung zu reden, danach noch im Bastelladen einkaufen zu gehen, Menschen zu treffen, mich zu unterhalten und ihnen zuzuhören. Wenn ich dann nach hause komme, fühle ich mich, als wäre ich eine Woche durchgängig arbeiten gewesen. 

Wie es mir körperlich geht, wurde ich jetzt öfters gefragt. Körperlich? Wieso? Achso, ja, da war doch was! Ich kann mich gar nicht mehr so richtig daran erinnern, es ist, als wäre nie etwas gewesen. Ich könnte die Schmerzen nun nicht mehr beschreiben. Ich weiß noch, dass ich mich ausgeliefert gefühlt habe, aber selbst dieses Gefühl verschwindet immer mehr. Mein Mann sagt, ich hätte ihn währenddessen oft voller Angst angeschaut, mit einem flehenden Blick, aber ich wäre ja auch völlig zugedröhnt gewesen. Dieser Blick, das hätte ihm am meisten weh getan. Und dabei hat er Tränen in den Augen. 

Am 7.9. wird die Beerdigung sein. Ich weiß noch nicht, wie ich diesen Tag überstehen soll. Wir wünschen uns eine schöne, bunte Feier für Johann. Und ich habe ein bisschen Angst, dass ich vor lauter Trauer gar nicht schön und bunt sein kann. Aber zumindest an diesem einen Tag möchte ich es sein. Für Johann, weil er auch ein Grund zur Freude ist.

Donnerstag, 20. August 2015

Johann.

Wir sind wieder zu hause. Nichts ist mehr, wie es war. Es ist seltsam, leer und kalt.

Vor zwei Tagen wurde mir früh eine Beruhigungstablette gegeben, bevor ich in die Ambulanz der Gynäkologie gebracht wurde. Ich erinnere mich noch, dass mein Mann zwar mitkommen durfte, aber dann trotzdem im Wartebereich bleiben musste. Ich erinnere mich auch noch, wie ich von meinem Bett auf die Behandlungsliege umgezogen bin, mich die Ärztin aus der Praxis für Pränataldiagnostik und der Oberarzt der Geburtshilfe begrüßt und mir gut zugeredet haben. Dann wurde mir irgendwas gespritzt und ich konnte noch denken, dass Johann und ich gemeinsam einschlafen, dann war ich weg. Auch an die Zeit nach dem Aufwachen kann ich mich nur bruchstückhaft erinnern. Mein Mann erzählte mir dann, dass mein Kreislauf abgesackt ist und ich noch ein bisschen überwacht werden musste. Wir hatten dann noch zwei Stunden für uns (abgesehen von der permanenten Kreislaufüberwachung) bevor ich die ersten Tabletten zum Anregen der Wehen bekam. Im Nachhinein erinnere ich mich an den ganzen Tag nur wenig, abgesehen vom völlig verschwunden Zeitgefühl. Ich weiß nur, dass ich mich teilweise gefühlt habe, als wäre ich ein Eimer für Sondermüll, so wie die Medikamente in mich reingeschoben wurden. Irgendwann gegen Abend bekam ich dann Unterleibsschmerzen, die auch schnell ziemlich heftig wurden, allerdings keine Wehen waren. Nach dem ersten Schmerzmittel wurde es tatsächlich mal kurzzeitig besser, um dann hinterher noch schlimmer zu werden. Ich wurde das erste Mal in Richtung Kreißsaal gebracht, dort von der Hebamme untersucht und gleich wieder zurück aufs Zimmer geschickt, da der Muttermund noch komplett zu war. Allerdings bekam ich von ihr auch ein stärkeres Schmerzmittel gespritzt, schon mit der Vorwarnung, dass das den Kreislauf ziemlich durcheinander bringen kann. Das Mittelchen hielt, was es versprach. Ich verbrachte die nächste Stunde in einer Art relativ schmerzfreiem Dämmerzustand mit mehrmaligem Übergeben. Als die Schmerzen danach wieder schlimmer wurden,  kamen wir wieder in den Kreißsaal, auch diesmal war der Muttermund noch fast zu (übrigens: Muttermunduntersuchungen sind ätzend!!!), allerdings bekam ich dann eine PDA. Vor der hatte ich schon vorher Angst, mir ist das nicht geheuer, dass mir jemand eine Kanüle ins Rückenmark legt. Es war auch wirklich nicht schön. Aber was danach kam, war umso schöner: völlige Schmerzfreiheit die ganze Nacht. So konnte ich immerhin ein paar Stunden durchschlafen und ein wenig Kraft tanken für den nächsten Tag.

Nachdem dann am Morgen klar war, dass die Tabletten, die ich aller vier Stunden nehmen musste, nicht so richtig anschlagen und die Hebamme prognostizierte, dass noch "eine Menge Arbeit" vor uns liegen würde, wurde der Oberarzt dazu geholt, der dann entschied, etwas stärkere Geschütze aufzufahren, um das Ganze mal zum Abschluss zu bringen. Mir wurde etwas gespritzt, dass das Gewebe locker machen sollte, ich bekam noch eine PDA und gleichzeitig kam ich an den Wehentropf. Das war dann sozusagen der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Innerhalb einer Stunde war der Muttermund dann endlich geöffnet.

Und dann war er da. Winzig klein und zerbrechlich, mit allem dran, was dran sein muss. Unschuldig sah er aus, so schutzbedürftig und wunderschön. Unser Sohn. Johann. Und obwohl ich wusste, dass das nur ein kurzer Besuch bei uns ist: ich hätte in dem Moment mit keiner anderen Frau tauschen wollen, ich wollte nur ihn, er war perfekt! Wir durften ihn erstmal eine Weile bei uns behalten, ihn festhalten und bestaunen, bevor er dann von der Hebamme gewaschen, gemessen, gewogen, angezogen und uns wiedergebracht wurde, in einem kleinen Körbchen, eingewickelt in die Decke, die ihm von seiner Oma gestrickt wurde.

Eine Ausschabung blieb mir zum Glück erspart, weshalb wir dann auch relativ schnell wieder in unser Zimmer durften. Vorher wurde mir nahegelegt, dass ich Johann doch bitte zudecken soll, wegen der anderen Frauen. Am liebsten hätte ich alle angebrüllt, dass ich aber genauso stolz bin auf unser Kind, und die anderen Frauen ihre Babys doch auch nicht zudecken aus Rücksicht auf mich. Dass es sowas eben auch gibt und ich nicht vorhabe, mein kleines Baby zu verstecken. Aber ich hatte keine Kraft mehr und wollte einfach nur meine Ruhe. (Außerdem, damit hier kein falscher Eindruck entsteht, muss ich sagen, dass wir uns trotzdem sehr gut aufgehoben gefühlt haben. Alle waren total mitfühlend, von der Schwesternschülerin über die Hebamme(n) bis zum Oberarzt, der extra nach Dienstschluss nochmal zu uns kam, um sich zu vergewissern, dass wir die Geburt gut überstanden haben.)

Wir hatten einen schönen Nachmittag mit Johann. Erst war der Fotograf da, der das wirklich unheimlich toll gemacht hat, sich ganz viel Zeit genommen und auch Fragen zu Johann gestellt hat. Wir hätten uns keinen besseren Fotograf vorstellen können für ihn. Danach kamen unsere Familien zu Besuch und der Pfarrer, der Johann in einer kurzen, aber schönen Zeremonie segnete. Ein unheimlich friedlicher Moment. Alle hatten kleine Geschenke für Johann mit. Ein kleines Köfferchen für seine Reise, mit Spielzeug und einem selbstgemalten Bild von seinem Cousin, ein kleines Kuscheltier, Blumen, ein Brief, ein kleines Kreuz. Das alles wird Johann auf seine Reise mitnehmen. 

Nachdem die Familie sich verabschiedet hatte, hatten wir noch zwei Stunden mit ihm allein. Wir haben ihm beide nochmal vorgelesen, seine Spieluhr gemeinsam angehört, seine kleinen kühlen Händchen gehalten, ihn geküsst und verabschiedet, um ihn dann der Hebamme zu übergeben, die ihn sehr liebevoll abgeholt hat und mit ihm gesprochen hat, als wäre er ein Baby und nicht, als wäre er ein totes Baby. Seine Kerze brannte die ganze Nacht in unserem Zimmer und es war eine unruhige Nacht mit wenig Schlaf. Als wir heute morgen entlassen wurden und das Krankenhaus verließen, hatte ich ein komisches Gefühl. Das Gefühl, ich würde mein Kind alleine lassen in diesen kalten und sterilen Räumen. Auf dem Weg nach hause wurde meinem Mann und mir wohl das erste Mal schmerzlich bewusst, was da jetzt eigentlich passiert war in den letzten Tagen und Wochen. Und als wir die erste Trauerkarte im Briefkasten hatten, war klar, dass das alles kein schlechter Traum war. Dass diese Karte für unseren Sohn ist.

Die Fotos auf meinem Handy kann ich mir nur unter Tränen anschauen. Niemals werde ich das Gefühl vergessen, Johanns kleine, kalte Hand zu halten mit den winzigen Fingern dran. Er wird immer ein Teil von uns bleiben und ab heute wird jede Nacht eine Kerze für ihn brennen. 

Kleiner, perfekter Johann.

Montag, 17. August 2015

Wie es uns geht.

Ja, da sitzen wir nun. Wir hören dem Regen zu und freuen uns irgendwie, dass sich das Wetter ein bisschen unserer Gemütslage anpasst. Der Tag heute war anstrengend. Wir hatten kaum geschlafen, mussten zeitig aufstehen und wussten nicht so recht, was uns jetzt eigentlich erwartet. Zuerst waren wir noch einmal in der Praxis für Pränataldiagnostik und hatten dort ein sehr tolles Gespräch mit der Therapeutin. Wir dachten nämlich schon, wir sind irgendwie verrückt oder vollkommen gefühlskalt, weil wir den Eindruck haben, alle anderen trauern mehr als wir. Aber das scheint wohl ziemlich normal zu sein. Wir funktionieren gerade, weil wir es müssen. Wir sind stark, weil wir die Kraft für hinterher brauchen. Wenn das dann alles sackt und wir verstehen, was da gerade mit uns passiert ist. 

Uns ist auch aufgefallen, dass alle auf die wir treffen unheimlich behutsam sind, ganz ruhig mit uns sprechen und aber keiner fragt, wie es uns geht, weil alle die vermeintliche Antwort schon kennen. Natürlich geht es uns schlecht, wozu also nachfragen? Umso schöner fanden wir heute das Treffen mit dem Fotografen, der heute extra nochmal ins Krankenhaus kam, damit wir uns schonmal kennenlernen konnten, weil er das auch zum ersten Mal macht. Der hat nämlich gefragt, wie es uns geht. (Und wahrscheinlich im selben Augenblick noch gedacht, es wäre eine blöde Frage) Aber wir haben gesagt, dass es uns ganz gut geht und das war nichtmal gelogen. Wir wurden hier wirklich sehr freundlich aufgenommen, alles wird so gemacht, wie wir es gerne hätten und ja, wir haben uns. Und den kleinen Rumpelwicht natürlich. Der tapferste von uns Dreien! 

Die Angst ist da, bei mir besonders. Ich dachte heute schon bei der Kanüle, dass ich es nicht aushalte. Morgen, wenn unser kleiner Junge einschläft, werde ich unter Beruhigungsmitteln stehen und kaum etwas bemerken davon. Einerseits natürlich gut. Andererseits macht es mich traurig. Von der Geburt an sich hab ich, trotz aller Aufklärung nur eine völlig abstrakte Vorstellung. Aber das würde mir auch bei einer normalen Geburt so gehen, da bin ich mir sicher. 

Wir möchten an dieser Stelle (und bestimmt noch an einigen mehr!) mal ein riesiges Dankeschön aussprechen, an alle die uns unterstützen! Sei es mental, durch Katzensitting, aber auch finanziell! Wir erfahren hier eine so enorme Hilfsbereitschaft, dass wir einfach völlig platt sind. Habt vielen Dank dafür! 

Freitag, 14. August 2015

Irgendwo zwischen Trauer und Hoffnung.

Wir erfahren gerade eine unheimlich große Anteilnahme. Ich bekomme täglich viele Nachrichten, voll mit lieben Worten, aber auch mit Sprachlosigkeit, mit dem Angebot zu helfen, wie und wo man kann. Nein, im Moment hilft irgendwie nichts davon, das ist richtig. Aber es rührt uns sehr und hinterlässt ein warmes Gefühl bei uns und dafür sind wir sehr dankbar!

Ich wurde jetzt ziemlich häufig gefragt, woher wir die Kraft nehmen. Ich kann es mir selbst nicht erklären, habe ich mich selbst doch immer als eher negativen, ängstlichen Menschen gesehen. Aber dieser kleine Junge in mir hat so viel verändert, wir sind stark für ihn. Wie das sein wird, wenn er nicht mehr da ist, ob mit ihm auch die Stärke in mir geht, das weiß ich nicht. 

Seit gestern wissen wir nun, wann die Geburt stattfinden soll. Gleich am Montag schon müssen wir nach Leipzig. Es wird nochmal ein kurzer Ultraschall gemacht, Vorgespräche geführt, Schriftkram erledigt und danach werden wir in die Klinik gehen, wo am Dienstag früh "der Eingriff" (ja, wie nennt man das Schreckliche, die alles entscheidende Spritze?) gemacht wird. Danach wird die Geburt eingeleitet. Ich habe einiges zum Thema stille Geburt gelesen, viel konnte ich nicht lesen, es hat mir jedes Mal das Herz gebrochen. Ich kann mir das Ganze immer noch nicht vorstellen, wahrscheinlich egal, wie viele Berichte ich noch lese. Die Familientherapeutin in Leipzig nimmt uns zum Glück einiges ab, sie sorgt unter anderem dafür, dass wir ein Familienzimmer bekommen, dass der Kleine noch im Krankenhaus getauft werden kann usw.

In einer Woche werden wir wieder zu Hause sein. Ohne ihn. Ich weiß jetzt schon, dass er die größte Lücke in unserem Leben hinterlässt, obwohl er der Kleinste von uns allen ist. Dann will die Beerdigung organisiert sein. Wir haben schon viel darüber gesprochen, geweint über den Gedanken, dass es die Beerdigung unseres Sohnes ist, über die wir sprechen. Für mich sind Beerdigungen immer etwas Schweres, Erdrückendes. Ich möchte nicht, dass diese Beerdigung auch so wird. Sie soll, bei aller Trauer, etwas leichtes, lebensbejahendes haben. Aber ja, vielleicht sehe ich das nach der kommenden Woche auch wieder ganz anders.

Mittwoch, 12. August 2015

Game Over

Gestern, gerade als wir beim regulären Vorsorgetermin saßen, kam ein Anruf von der Humangenetikerin, sie hätte jetzt die Ergebnisse vorliegen, ob es uns möglich wäre gegen 17 Uhr in ihre Praxis zu kommen, bitte unbedingt zu zweit, es müsse auch noch Blut bei uns abgenommen werden. Wir hatten direkt beide ein schlechtes Gefühl bei dem Anruf. Irgendwie war uns klar, dass da was nicht in Ordnung sein kann. Trotzdem, oder gerade deswegen bestellte ich dann an der Anmeldung einen Extraultraschall dazu, die Zeit war eh da, denn ich hatte das Glukosescreening und musste sowieso eine Stunde warten zwischen dem ekelhaft süßen Getränk und der Blutentnahme. Und obwohl ich wusste, dass ein CTG in der 27. Woche absolut unnötig und sinnlos ist, hab ich auch das noch mitgenommen. So als wollte ich noch alles aufsaugen, was irgendwie mit Schwangerschaft zu tun hat. Der Ultraschall war einer der schönsten, die wir bisher hatten. Er lag mit dem Köpfchen nach unten und hatte seine Beine ebenfalls unten, so dass er abwechselnd an Daumen, Nabelschnur und großer Fußzehe nuckeln konnte.  Es wirkte ein bisschen wie: "Schaut her, was ich schon alles kann!" Das CTG konnte er anscheinend nicht so gut leiden, da klang für mich auch rein gar nichts nach einem gleichmäßigen Herzschlag. Eher klang es, als würde jemand mit einem an Lautsprecher angeschlossenen Mikrofon Fußball spielen. Aber egal, ich konnte liegen, was mir sehr recht war, denn von völliger Übermüdung, Kopfschmerzen, totalem Hunger und Durst, abartiger Hitze und der Zuckerlösung war mir richtig schummrig. Das flaue Gefühl im Magen wurde durch den Anruf noch verstärkt. Als wir den Termin für die nächste Untersuchung ausgemacht haben, wurden wir von der Schwester gefragt, was eigentlich bei dem Termin in Leipzig rausgekommen sei. Als ich ihr das kurz erklärte, musste mein Mann den Raum verlassen, ihm kamen die Tränen. Mit den besten Wünschen verließen wir die Praxis. Ein Gefühl machte sich breit. Das Gefühl, dass wir unser Kind heute das letzte Mal lebend gesehen haben.


Wie die Zeit bis 17 Uhr verging, muss ich glaub ich nicht erzählen. Als wir dann im Wartezimmer der Humangenetikerin saßen, hatte ich eine seltsam gute Laune. Ich blätterte in den Zeitschriften und lachte über unlustige Dinge. Es war wie dieses Unsicherheitslachen, wenn man mit einer Freundin nachts im Wald unterwegs ist und sich eigentlich vor Angst gleich in die Hosen macht. Mit einem kurzen Exkurs in Biologie ging dann das Gespräch los und das war eine ziemlich gute Taktik, denn so wurde es direkt in eine sachliche Ebene gebracht, ohne dabei unterkühlt zu wirken. Uns wurde erklärt, wie das nochmal war mit der Vererbung, den Genen und den Chromosomen. Ich verstand, wie damals in der Schule, nichtmal die Hälfte. Deshalb ist das, was ich hier wiedergebe wahrscheinlich nicht wissenschaftlich korrekt, ich versuche es aber trotzdem. Es gibt wohl zwei Gene, auf denen man diese Mutation nachweisen kann. Auf dem ersten würde bei unserem Kind alles ganz normal aussehen. Auf dem zweiten, und das ist leider das, bei dem es die schlimmeren Auswirkungen hat, gibt es an 4507. Stelle eine Mutation. Dort müsste ein C stehen, es steht aber ein T. Und das allein bewirkt, dass eine übermäßige Zellteilung stattfindet, was wiederum Grund für die Tumore ist, die sich an allen möglichen Stellen bilden können. Es gäbe jetzt noch die Möglichkeit, dass bei einem von uns ganz genau diese Mutation vorhanden ist, was bedeuten würde, dass diese wohl nicht pathologisch ist (also keine medizinisch relevanten Auswirkungen hat). Die Wahrscheinlichkeit ist allerdings mehr als gering, die Ärztin hätte so einen Fall in über zwanzig Jahren nicht erlebt. Und selbst dann gäbe es keine Garantie, dass es sich bei dem Kind nicht doch anders auswirkt. Wir haben noch eine Menge Infomaterial mitbekommen und wurden vor Allem auch in unserer Entscheidung unterstützt, dem Kleinen dieses Leben zu ersparen, denn die Fälle, die sie kennt, wären allesamt mit einem eher schlimmen Verlauf, bei dem die Krampfanfälle bereits mit wenigen Wochen losgingen, die wenigsten Kinder hätten überhaupt das Sprechen gelernt und wären spätestens im Jugendalter schwerst mehrfachbehindert. 

Ich hatte erwartet, ich würde komplett zusammenbrechen und anfangen zu heulen. Seltsamerweise waren wir aber vor allem eins: erleichtert. Die Ungewissheit war vorbei. Wir hatten damit gerechnet, weil 70% eben doch mehr als 30% sind. Erst abends kurz vorm Einschlafen gab es diesen kurzen Moment, als ich gesagt hab "Wir dürfen auf keinen Fall vergessen die Spieluhr mitzunehmen, damit er sie hören kann, wenn er das letzte Mal einschläft. Und dann bekommt er sie mit ins Grab und dann will ich die Melodie nie wieder hören." 

Ich weiß, das Schlimmste steht uns noch bevor. Und ich habe vor der Spritze, die den Kleinen zum Einschlafen bringt viel mehr Angst, als vor der Geburt. Und ich habe Angst vor dem Danach. Die Beerdigung und all das. Und Angst vor all den traurigen Gesichtern, die uns begegnen werden. Aber ein ganz kleiner Teil in mir freut sich auch auf den Babyjungen, weil ich finde, er hat es genau wie jedes andere Kind verdient, dass man sich auf ihn freut und stolz auf ihn ist!



Mittwoch, 5. August 2015

Ein Schritt vor, zwei (Wochen) zurück.

Eigentlich gibt es nicht wirklich einen Grund zu schreiben, außer dass da draußen ganz liebe Menschen sitzen und mit uns hoffen und Daumen drücken. Ja, die zwei Wochen sind um, schon seit zwei Tagen. Wir sind aber nicht schlauer. Nachdem wir am Montag fast durchgedreht sind während des Wartens auf den Anruf und sich bis zum Nachmittag niemand gezuckt hatte, haben wir dann in der Praxis angerufen. Da lag noch keine Info vor, allerdings rief der Arzt dann abends zurück, um uns zu sagen, dass mit den Chromosomen erstmal alles in Ordnung ist. Nachdem ich schon hörbar aufgeatmet hatte, nahm er mir aber direkt wieder den den Wind aus den Segeln: "Das hat aber noch keine Aussagekraft über die tuberöse Sklerose!" Die Untersuchung ist wohl etwas aufwändiger als gedacht, allerdings wären wir ja sowieso am 18. August zur Kontrolle da und bis dahin wären dann auch die Ergebnisse aus dem Labor da. Ich war so baff, dass ich gar nichts weiter dazu sagen konnte, außer mich brav zu bedanken für den Rückruf nach Feierabend. Nach dem Auflegen musste ich erstmal heulen, um danach zu schimpfen. Die Chromosomenzahl hat mich doch gar nicht interessiert. Ich wusste vorher, dass keine Trisomie vorliegt. Und dass die Untersuchung länger dauert, hätte man ja vorher auch mal erwähnen können. Eigentlich wollten wir dann nochmal anrufen und nachhaken, haben uns dann aber dagegen entschieden. Wir wissen jetzt, dass wir es am 18. definitiv erfahren, damit fällt zumindest das Zittern bei jedem Telefonklingeln weg. Und wir haben noch zwei Wochen, die wir, wenn auch nicht unbeschwert, aber trotzdem mit einem Fünkchen Hoffnung verbringen können. Wäre der kleine Mann schon da, würden wir ja auch versuchen, ihm die vielleicht letzten Lebenstage noch ein bisschen schön zu machen. Dass das nicht 24 Stunden jeden Tag klappen wird und uns die Angst immer mal wieder einholen wird, ist klar. Trotzdem sind wir jetzt in dem Moment Eltern mit einem lebenden Kind und freuen uns über jedes Boxen und Treten. Scheiße wirds so oder so im Ernstfall und den ersten Schock haben wir schon mal überstanden. Trotzdem gab es heute nochmal einen heftigen Stich, als mir bewusst wurde, dass ich in einer Woche schon ins letzte Drittel der Schwangerschaft komme und es jetzt nichtmal mehr 100 Tage sind bis zum Geburtstermin. Dass wir an diesem Tag wieder alleine sein könnten, tut verdammt weh.

Eines noch zum Schluss: Ich hab hier immer mal das Gefühl mich für Geschriebenes rechtfertigen zu müssen. Das hier ist quasi so etwas wie mein Tagebuch. Lest es, oder lasst es zugeklappt. Beides ist ok. Aber ich werde hier weiterhin ehrlich meine Gedanken äußern, ambivalent wie sie auch manchmal sein mögen, vielleicht fühlt sich dadurch jemand angegriffen, mag sein, aber wer das hier mit ein bisschen Empathie liest, dem dürfte sich das eigentlich selbst erklären. Und nein, wir brauchen auch keine Entscheidungshilfe was unseren Entschluss für den Ernstfall angeht.
(Und ja, ich weiß, wenn ich hier mein Privatleben ausbreite, muss ich auch mit seltsamen Kommentaren rechnen, aber so ein kleines bisschen Feingefühl erwarte ich von Lesern eines so persönlichen Blogs einfach. Besonders von denen, die in dieser speziellen Lage noch nie waren.)