Donnerstag, 21. November 2019

Die Natur denkt nicht.

Der letzte Blogeintrag ist ewig her und ich weiß gar nicht, ob ein Blog überhaupt Sinn macht, in dem man nur einmal im Jahr was schreibt. Vermutlich nicht.
Aber gestern habe ich bei Facebook einen Beitrag gesehen (ich meine er wäre von arte gewesen), in dem es um ein Paar ging, das in Deutschland schon einige erfolglose Versuche der Kinderwunschbehandlung hinter sich hatte und es nun in Tschechien probieren wollte, da es dort noch ein paar Möglichkeiten gibt, die es in Deutschland aus ethischen Gründen nicht gibt. Da die Reaktionen auf den Beitrag hauptsächlich aus dem wütenden Emoji bestanden und ich offensichtlich masochistisch veranlagt bin, dachte ich, ich guck mal in die Kommentare. Und ich bin erschrocken. Ich dachte, wir wären schon weiter. Aber die Meinung, die Natur hätte sich schon irgendwas dabei gedacht, ist tatsächlich noch so weit verbreitet, dass ich mich frage, weshalb es überhaupt noch so viele Menschen gibt, wenn doch ein großer Teil von ihnen denkt, was die Natur uns so einrichtet, wäre eben Bitteschön einfach so hinzunehmen und gefälligst ohne medizinische Hilfe auszusitzen. Aber nee, wenn man selber ein Leiden hat, geht man selbstverständlich zum Arzt und lässt sich behandeln, denn das ist ja etwas ganz anderes, denn dann wäre man ja schließlich krank und Kinderwunsch ist ja wohl keine Krankheit. Zäumen wir mal das Pferd von hinten auf und schauen uns die Definition von Gesundheit der WHO an: „„Gesundheit ist ein Zustand vollkommenen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens und nicht allein das Fehlen von Krankheit und Gebrechen.“      
Laut dieser Definition ist man also schon mal nicht gesund, wenn man sich beispielsweise sozial isoliert fühlt, weil alle um einen herum Kinder bekommen und man selbst ständig gestichelt wird „na, wann ist es denn bei euch soweit?“ (Oft kommen solche distanzlosen Fragen sogar vom gleichen Schlag Mensch, der diesen Naturquatsch verbreitet.)
In den allermeisten Fällen (80% soweit ich weiß) wird sogar eine körperliche Ursache gefunden, irgendetwas, das eben nicht so funktioniert wie gedacht. Dazu noch ne Depression, weil einen all das nach ein paar Jahren einfach völlig verzweifeln lässt - ich wüsste jetzt nicht, welche Kriterien man denn noch erfüllen sollte, damit man medizinische Hilfe in Anspruch nehmen darf, wenn es nach den "Naturtheoretikern" geht. Im Übrigen gibt es sogar eine Diagnose: Sterilität. Natürlich ist der Kinderwunsch an sich keine Krankheit, aber die Ursachen dafür und die Auswirkungen auf das Leben können eine Krankheit sein und/oder krank machen. 

Ein weiterer Punkt den die Kritiker*innen anbrachten: „künstlich gezeugte“ Kinder würden später öfter krank werden. Ja, es gibt etliche Studien die sagen, dass Kinder die per künstlicher Befruchtung entstanden sind, später z.B. ein höheres Risiko für Gefäßkrankheiten haben. Aber würde man danach gehen, dürften chronisch Kranke ja auch keine Kinder mehr bekommen, da diese ebenfalls ein höheres Risiko haben, an der gleichen chronischen Krankheit zu erkranken. Oder Frauen über 35, denn ihr wisst schon, das Risiko einer Trisomie usw. 

Oft kommt dann auch das Argument, es gäbe ja schon so viele arme Kinder auf der Welt, die niemanden haben, soll man sich doch derer annehmen und sie adoptieren. Das mag für manche Familien wudnerbar funktionieren, für viele aber nicht und das aus ganz unterschiedlichen Gründen. Adoption ist eine unfassbare Herausforderung, die auch gewaltig schief laufen kann. Es bietet ein ganz anderes Konfliktpotential, wenn man ein Kind  als seines annehmen möchte, dass andere leibliche Eltern hat und dem muss man erstmal gewachsen sein. Du musst damit rechnen, dass du ab diesem Zeitpunkt immer auch die Herkunftsfamilie in deinem Leben hast und das sind jetzt nicht immer die angenehmsten Zeitgenossen. Dazu kommt einfach auch der emotionale Aspekt. Nicht jedem Menschen ist es gegeben, dass er sich auf ein Adoptivkind so einlassen kann, wie auf ein eigenes. Und abgesehen davon: es gibt tatsächlich gar nicht so viele Adoptivkinder, wie Familien auf den Wartelisten stehen. Oft wird das verwechselt mit Pflegekindern und das ist einfach was komplett anderes, eine oft noch größere Herausforderung, denn da kann es nämlich gut sein, dass das Kind sich gerade bei den Pflegeeltern eingelebt hat, es geht ihm gut, sein emotionaler Zustand stabilisiert sich, man hat Vertrauen aufgebaut und zack! entscheidet das Familiengericht, das Kind darf wieder in die Herkunftsfamilie, denn Herr und Frau XY sind jetzt seit zwei Jahren clean und bemühen sich wirklich sehr. Keine einfache Sache also,

Aber abgesehen von diesen ganzen „Argumenten“, die da immer vorgebracht werden, stört mich etwas ganz anderes. Etwas, das ich für symptomatisch für diese Gesellschaft halte: das Unvermögen vieler Menschen, Empathie zu empfinden. Geht es um den Kinderwunsch, heißt es: „Pech gehabt! Hat die Natur sich schon was bei gedacht!“, geht es um ungewollte Schwangerschaft heißt es: „Pech gehabt! Hättest du mal verhütet!“, geht es um Depressionen heißt es: „Stell dich nicht so an, geh mal ein bisschen raus und mach Sport!“, fühlt man sich in der Ausbildung ausgenutzt heißt es: „Tja, Lehrjahre sind keine Herrenjahre!“ usw. 
Leute, es geht mir so auf den Sack! Das sind eure Mitmenschen, die das betrifft! Eure Nachbarn, eure Arbeitskolleg*innen, eure Familienangehörigen, eure Freunde! Ihr wisst es vielleicht nicht, weil sie eure Meinung kennen und sich deshalb lieber nicht öffnen. Aber geht mal in ein Wartezimmer eines Kinderwunschzentrums, die sind rappelvoll! Alle! Immer! Und das sind nicht immer die selben Leute die da sitzen. Glaubt mir, ich saß selber oft genug dort rum, ich habe nie jemanden zwei mal gesehen. Und auch was die anderen Themen betrifft: ihr kennt alle jemanden, der oder die Depressionen hat. Ihr kennt alle eine Frau, die abgetrieben hat. Hört also bitte auf mit diesem „musste halt durch“-Gelaber, das hilft keinem. Auch euch nicht, wenn es euch mal schlecht geht, aus welchem Grund auch immer. Ihr denkt, für eure Probleme interessiert sich doch auch keiner? Dann fang doch selber mal an, euch für die Probleme eurer Mitmenschen zu interessieren. Fragt nach, ertragt ehrliche Antworten, urteilt nicht, auch wenn ihr anders damit umgehen würdet. Ihr werdet sehen, plötzlich interessiert sich auch jemand für euch. Ist echt gar nicht so schwer.