Montag, 5. Oktober 2015

Die Zeit.

Sechs Wochen und fünf Tage ist die Geburt nun her und ich weiß überhaupt nicht, wie die Zeit so schnell vergehen konnte. Ähnlich lang ist die Zeit bis zum errechneten Geburtstermin und ich merke jetzt schon, wie groß meine Angst vor dem November ist und vor den Wochen danach. Weihnachten und so. Das Fest der Liebe. Und der Familie. Ich möchte kotzen!

Momentan bin ich ganz empfindlich, was Babybäuche angeht. Am Liebsten würd ich keine sehen wollen und deshalb fallen sie mir besonders auf. Dann denk ich gleich dran, wie groß mein Bauch jetzt wäre und dass ich stattdessen einen leeren Schwabbel vor mir hertrage. Wenn ich irgendwo Mamas mit Bauch sehe, die sich mit Dingen fürs Baby eindecken, denke ich zynisch: "Na, wart's mal ab! Da kann noch viel passieren!", und fühl mich im nächsten Moment echt schäbig, weil ich es gerade niemandem gönnen kann. Ich befürchte, ich kann das erst, wenn ich selbst wieder schwanger bin. Wobei, einer Person gönne ich es tatsächlich von Herzen, sogar jetzt, weil ich um die schwierige Vorgeschichte weiß. Es ist schlimm, dass ich da so unterscheide, das passiert nicht bewusst. Es ist einfach so und wahrscheinlich ist es auch völlig normal.

Aber kommen wir noch mal zurück zur Zeit. Wahrscheinlich rast sie so, weil ich so abgelenkt bin. Die Flüchtlingshilfe nimmt viel Zeit in Anspruch, wenn es auch manchmal nur gedanklich ist. Und dann sind da noch diverse Arzttermine und der Rückbildungskurs. Einerseits tut mir so ein gewisses Maß an Alltag ganz gut. Andererseits denk ich manchmal auch: Es ist sechs Wochen her, dass dein Kind gestorben ist, du MUSST jetzt keinen Alltag haben! Du solltest (könntest?) den ganzen Tag auf der Couch rumliegen, heulen und dir jeden Tag Pizza bestellen! 

Gestern gab es drei Stunden, in denen ich überhaupt nicht an Johann gedacht habe. In dem Moment tat mir das gut, ich war sogar fast ein wenig ausgelassen. Abends hat es sich dann gerächt. Ich war jähzornig, traurig, überfordert mit Allem und gemein. Einschlafen konnte ich nicht, weil die Tränen nicht aufhören wollten, mir aus den Augen zu schießen. Es hat ewig gedauert, bis ich mich wieder beruhigen konnte.

Das Schlimme an der Sache ist: je mehr normalen Alltag ich lebe, umso mehr erwarten Andere von mir. Das ist zumindest meine große Angst, denn ich merke, wie ich es von mir selbst erwarte. Ich weiß, dass mein Umfeld (zumindest, was den Großteil des Freundeskreises und meine Familie angeht) mich niemals unter Druck setzen würde. Trotzdem schleichen sich bei mir solche Gedanken ein, wie: "Die Flüchtlingskinder kannst du betreuen, aber arbeiten willst du noch nicht gehen!" Arbeiten ist ja sowieso bis Dezember erst einmal kein Thema. Aber ich habe wirklich Angst vor dem Tag, an dem der Mutterschutz endet, weil ich nicht weiß, ob ich mir selbst eine weitere Schonfrist (ohne ein schlechtes Gewissen) zugestehen kann. Ich habe Angst, dass man (ja, wer eigentlich?) denken könnte, dass ich mich doch ganz normal verhalte, da könnte ich doch auch wieder arbeiten gehen, denn ich habe es ja offensichtlich überwunden. Angst, dass man mir meine Trauer einfach nicht ansieht und mir deshalb zu viel zumutet. Und "man" schließt in dem Fall mich selbst nicht aus. Ich weiß einfach gar nicht, wie ich mich fühle und was ich kann. Oft merk ich erst hinterher, wie sehr mich etwas angestrengt hat. 
Ich schiebe seit zwei Wochen Treffen mit Freundinnen vor mir her. Ich will mich unbedingt mit ihnen treffen, aber ich schaff es nicht und dass sie immer zu mir kommen, will ich ihnen nicht zumuten, obwohl sie es ohne zu zögern tun würden.

Es ist eine seltsame Zeit. Manchmal denk ich, mein Kopf platzt gleich, weil so viele Gedanken darin sind und manchmal fühlt er sich an, als wäre darin nichts als ein kleiner Strohballen namens Johann, der vom Wind vorsichtig durch die Wüste gepustet wird.

2 Kommentare:

  1. Danke für den Text! Du funktionierst und du verdrängst. In deiner Situation doch völlig normal. Gesteh dir die Freiheit zu, ohne Wenn und Aber zu tun, was du kannst und willst. Wenn du bis Dezember im Bett bleiben und Pizza bestellen möchtest, tu es! Wenn du rausgehen und dich ablenken möchtest, tu es! Glaub mir, niemand versucht dich in deiner Lage zu analysieren. Wir haben alle großen Respekt.

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  2. Hallo Rose, seit Monaten lese ich deine Beiträge. Ich habe mich mit euch gefreut, ich habe mit euch geweint und ich bewundere, wie souverän und mutig ihr die Krankheit eures kleinen Johann ertragen habt um ihm letztlich selbstlos das Leben (ohne Schmerzen und Ängeste) zu schenken. Ja ich bin mir sicher, seinen Körper hat er abgelegt (wie ein Kleidungsstück aus dem er herausgewachsen ist), seine Seele aber lebt und das Band der Liebe wird euch immer miteinander verbinden. Er wird euch immer nah sein.
    Und du musst auch von dir nicht enttäuscht sein, brauchst kein schlechtes Gewissen zu haben und auch nicht wütend auf dich selbst werden, wenn du euren Verlust für ein paar Stunden vergisst, wenn du ausgelassen bist, wenn du lachst und einfach das Leben wieder einmal genießt. Ich glaube, Johann würde das freuen und er würde dir und deinem Mann sicherlich gern mehr von diesen Stunden schenken.

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