Dienstag, 21. Juli 2015

30 Prozent - oder wenn der Traum zum Alptraum wird

Ich bin eine echte Schwarzmalerin, wirklich. Und ich hatte vor vielen Sachen Angst und hab mir letztens fast ins Hemd gemacht, weil ich eine Scheibe rohen Schinken gegessen hatte. Aber auf manche Dinge ist man einfach nicht vorbereitet. Sie kommen hinterhältig und vor allem schmerzhaft wie ein Schlag in die Fresse. Mit dem Vorschlaghammer. Und gleichzeitig fühlt man sich wie  von einer Dampfwalze überrollt. 

Es fing an mit einer weißen Stelle am Babyherzen auf dem Ultraschall. Wir wurden an die Feindiagnostik überwiesen. Reine Routine, wenn der normale Frauenarzt etwas nicht so genau erkennt, also erstmal kein Grund zu großer Besorgnis. In 90% der Fälle kann Entwarnung gegeben werden. Also schnell noch auf dem Weg in den Urlaub kurz nach Leipzig fahren und sich die Bestätigung abholen, dass alles in Ordnung ist. Wenn man dann dort in der Praxis sitzt und diesen Zettel ausfüllt, ob man das wirklich wissen will, dann macht man hier und da seine Kreuzchen, als würde das einen nicht betreffen. Man kennt das ja. Das ist wie vor einem Routineeingriff mit den Komplikationen, man kreuzt einfach an, dass man die OP trotzdem will, weil man das eben so macht.

Auf dem Ultraschall sah das alles gar nicht so schlimm aus. Alle Organe funktionieren super, kein Grund zur Besorgnis und ja, eindeutig, es wird ein kleiner Junge. Diese weiße Stelle am Herzen - ein Tumor. Kein Krebs, sondern eine gutartige Wucherung, bei vielen Babys geht das nach der Geburt wieder weg. Kurzes Aufatmen, aber die Dampfwalze hat ihren Motor schon angeschmissen und rollt los. Solche Tumore sind oft ein Hinweis auf eine sehr seltene Krankheit. Tuberöse Sklerose. Der Tumor am Herzen wird nach der Geburt vielleicht verschwinden. Dafür bilden sich unter anderem welche in Niere und Gehirn. Der kleine Junge, der gesund und munter auf die Welt kommen würde und voller Neugier und Wissensdurst viele Dinge lernen würde, würde Stück für Stück alles wieder verlernen. Die Endkonsequenzen kann ich nicht aussprechen. Die Wahrscheinlichkeit an dieser Krankheit zu erkranken liegt bei etwa 70 Prozent. Ob wir eine Fruchtwasserpunktion machen lassen wollen, damit könne man sagen, ob oder ob nicht, wir sollten auf jeden Fall mit der Humangenetikerin sprechen und auch mit der Familientherapeutin, die sie speziell für solche Fälle hier in der Praxis haben...

Ich nehme gar nichts mehr wahr. Der Arzt redet, wir nicken. Ob wir Fragen haben. Ja. Warum diese ungerechte Scheiße überhaupt möglich ist und warum ausgerechnet unser Baby, auf das wir sechs Jahre gewartet haben? Die Fragen stelle ich nicht. Ich frage nach der Lebenserwartung und will die Antwort gar nicht wissen.

Bei der Familientherapeutin bricht es aus mir raus, ich heule. Laut. Ich kann nichtmal erklären, was uns gerade gesagt wurde. Es ist wie ein absoluter Alptraum. Wir sind uns beide sicher, dass wir unserem Kind das Leiden ersparen wollen, sollte es diese Krankheit haben. Das auszusprechen tut mehr weh, als alles andere was ich jemals gesagt, gedacht, getan und erlebt habe. 

Wir entscheiden uns, dass wir gleich noch zur Fruchtwasserpunktion bleiben und danach trotzdem nach Schweden fahren, um für uns zu sein. Jetzt zu Hause sein, das ist unvorstellbar. Die Schwester, die die Punktion begleitet, redet so viel, dass ich fast vergesse, weshalb ich da liege. Kurz bevor die Nadel in den Bauch gestochen wird, stelle ich mir vor, dass ich gleich mit einem lauten Knall platze wie ein Luftballon. Und während die Nadel in den Bauch sticht, starre ich auf den Bildschirm und denke: "Bitte stech mein Baby nicht!" Ich sehe das Fruchtwasser rauslaufen und es kommt mir vor wie eine heilige Flüssigkeit. Es ist die Flüssigkeit die unser Kind umgibt, etwas das ihn berührt hat. Ich will es gar nicht hergeben. Aber ich bin tapfer und erzähle mit der Schwester über Schweden. Ob die sowas in ihrer Ausbildung lernen? Menschen abzulenken? Es funktioniert, glaube ich. Danach großes Daumendrücken, dass wir zu den 30% gehören, die von der endgültigen Diagnose verschont bleiben. Wir verlassen die Praxis. Am Auto schau ich mir das letzte Ultraschallbild von Freitag an. Das kleine Gesicht, unschuldig und völlig ahnungslos.

Die Fahrt nach Rostock eine Mischung aus gespieltem Alltag, Heulattacken, Hoffnungsschimmern. Es kann nicht sein! Es kann einfach nicht sein, dass dieses kleine Wesen, dass so kräftig in meinem Bauch strampelt, diese Welt nie sehen wird. Das ist unmöglich! Und als hätte es eine Ahnung, ist es an diesem Tag ganz still. Kein Treten, kein Boxen. Erst als wir abends im Bus liegen und ich die Spieluhr auf meinen Bauch lege, gibt es einen einzigen kräftigen Tritt. 

In zwei Wochen erfahren wir das Ergebnis der Untersuchung. Bis dahin wollen wir in der Einsamkeit Schwedens für uns sein. Nicht der letzte Urlaub zu zweit, wie wir noch vor 4 Tagen gesagt haben, sondern der erste und hoffentlich nicht letzte Urlaub zu dritt.

10 Kommentare:

  1. Jetzt kullern hier die Tränen. Es ist unfassbar schrecklich, unfair und gemein! Ich wünsche euch so sehr, dass dein letzter - wunderschöner - Satz in Erfüllung geht!

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  2. So schrecklich. Dein letzter Satz brachte mich zum Weinen! Versuch nicht zu verzagen. Alles Gute für euch und das Baby.

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  3. Ich weine auch und hoffe und drücke so unfassbar fest die Daumen, dass es weh tut.

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  4. Als ich von der weißen Stelle im Ultraschall nach dem ersten Arztbesuch gelesen habe, wurde mein Mund schon ganz trocken. Ich habe so mit Euch mitgefiebert. Wie wahrscheinlich ihr selbst habe ich aber gedacht, dass es Entwarnung gibt. Das Ergebnis brachte jetzt auch mich zum Weinen, ich weiß gar nicht, was ich sagen soll. Ich wollte Euch nur eine Nachricht hinterlassen, dass ein weiteres Paar Daumen fest gedrückt sind und ich Euch nicht sehnlicher wünsche, als dass ihr zu den 30% gehört. Viel viel Kraft in den kommenden zwei Wochen...

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  5. Das ist einfach nicht fair. Ich hoffe und bete für Euch Drei das alles Gut wird. Mir fehlen die Worte ...
    Liebe Grüße Franzi

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  6. Ich wünsche euch aus tiefstem Herzen alles Gute! Denke an euch!

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  7. Das tut mir so leid :( Ich wünsche euch alles, alles Gute!

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  8. Ich wünsche euch alle Kraft der welt und hoffe zu tiefst das alles gut geht. Ich wünsche es euch so sehr das alles gut wird.

    Lg eine stille Leserin

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  9. Jede Mutter, werden wollende Mutter und jeder andere halbwegs normale Mensch fühlt mit euch. Gerade liegt mein kleiner 4Monate alter Junge auf meinem Bauch und ich bebe vor Schmerz und Mitgefühl. Ich wünsche euch alle Kraft das ihr doch euer Happyend findet. Respekt davor das Als in Worte fassen zu können .

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  10. Jede Mutter, werden wollende Mutter und jeder andere halbwegs normale Mensch fühlt mit euch. Gerade liegt mein kleiner 4Monate alter Junge auf meinem Bauch und ich bebe vor Schmerz und Mitgefühl. Ich wünsche euch alle Kraft das ihr doch euer Happyend findet. Respekt davor das Als in Worte fassen zu können .

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